Greenpeace Nordi und Natur OG Ugdom (zwei Umweltschutzorganisationen) sowie 8 individuelle Beschwerdeführende klagten Norwegen vor dem Europäischen Gerichtshof wegen einer Verletzung der Rechte auf Leben (Art 2) und Privat- und Familienleben, weil neue Lizenzen für Probebohrungen nach Erdöl in der Arktis (Barentsee) erteilt wurden. Die Beschwerdeführenden argumentierten einerseits, dass die Klimaauswirkungen der Bohrungen – insbesondere vor dem Hintergrund möglicher späterer Erdölförderung – nicht ausreichend ermittelt und bewertet worden seien. Andererseits machten sie geltend, dass Norwegen generell keine angemessenen Maßnahmen zur Bewältigung der Risiken des Klimawandels ergriffen habe. Zusätzlich kritisierten sie eine unzureichende Gewährleistung ihres Rechts auf wirksamen Rechtsschutz im innerstaatlichen Verfahren.
Die individuellen Beschwerdeführenden erklärte der EGMR als unzulässig, da sie nicht hinreichend individuell betroffen seien und damit den in KlimaSeniorinnen entwickelten Maßstab nicht erfüllten. Die beiden Umweltorganisationen ließ der Gerichtshof jedoch – ebenfalls nach dem KlimaSeniorinnen-Test – als beschwerdebefugt zu. Er stellte klar, dass es ausreichend ist, wenn eine Organisation rechtmäßig gegründet wurde, den Zweck verfolgt, die Menschenrechte ihrer Mitglieder oder anderer potenziell Betroffener im Kontext des Klimawandels zu schützen, und qualifiziert ist, diese Personen zu vertreten. Damit bestätigte der EGMR, dass Umweltorganisationen keine besonders vulnerablen oder individuell betroffenen Mitglieder nachweisen müssen, um klageberechtigt zu sein.
In der Sache selbst befasste sich der Gerichtshof nicht mit der Frage eines generellen „Phase-out“ fossiler Energieträger, da dieser Aspekt vor den nationalen Gerichten nicht ausreichend behandelt worden war und daher der innerstaatliche Rechtsweg nicht als ausgeschöpft galt. Ausführlich äußerte sich der EGMR jedoch zu den verfahrensrechtlichen Pflichten von Staaten bei der Genehmigung klimaschädlicher Projekte. Er bejahte erstmals einen hinreichend engen Zusammenhang zwischen der Vergabe fossiler Lizenzen und Klimarisiken – und zwar auch dann, wenn sich diese Risiken erst zu einem späteren Zeitpunkt verwirklichen, etwa weil zunächst lediglich Probebohrungen erfolgen.
Im Hinblick auf die Verfahrensanforderungen hob der Gerichtshof hervor, dass eine angemessene, frühzeitige und umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) zwingend auch die Klimarisiken eines Projekts berücksichtigen muss. Hierzu gehört nach wissenschaftlichen Standards insbesondere eine Quantifizierung sämtlicher Treibhausgasemissionen, einschließlich der Verbrennungsemissionen (Scope 3), sowohl im Inland als auch im Ausland. Die UVP muss außerdem prüfen, ob das Vorhaben mit nationalen und internationalen Klimaverpflichtungen vereinbar ist – einschließlich der Vorgaben des Pariser Klimaabkommens. Der EGMR betonte zudem die Bedeutung einer frühzeitigen Öffentlichkeitsbeteiligung, die zu einem Zeitpunkt stattfinden muss, zu dem noch verschiedene Handlungsoptionen offenstehen. Obwohl der EGMR den Einzelfall thematisierte nahm er auch darauf Bezug, dass die Entscheidung nicht isoliert von den kumulativen Auswirkungen der Erdölpolitik für das Klima als Ganzes bewertet werden könne.
Im Ergebnis fand der EGMR jedoch keinen Verstoß Norwegens gegen die Rechte der EMRK, weil Norwegen noch im Rahmen seines Ermessensspielraums gehandelt hatte. Dieser ist laut der KlimaSeniorinnen Entscheidung im Hinblick auf die Klimaziele enger, hinsichtlich der Ausgestaltung der nationalen Verpflichtungen jedoch weiter. Die Entscheidung gibt jedoch auch ohne eine Verstoß Norwegens klare und wichtige Standards für zukünftige Großvorhaben mit Klimarelevanz vor. Der EGMR hat sich zwar zum fossilen Sektor geäußert, die Standards könnten jedoch auch auf andere Vorhaben mit Auswirkungen auf das Klima angewendet werden.
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